24. März 2022

AUSTAUSCH

Drei kleine Geschichten aus dem zweiten Storytelling-Workshop

 
 
 

Wenn wir an das Thema Mehrgenerationen denken, kommen uns Gedankenimpulse zu Themen wie Vertrauen, Konflikte, Liebe & Familie. Aus diesen Impulsen sind bei dem letzten Storytelling-Workshop unter der Leitung von Hanna viele kleine Geschichten mit großer Wirkung entstanden. Drei der wunderbaren, sehr offenen und ehrlichen Geschichten könnt ihr nun hier lesen. 

Die erste erzählt von Schicksalschlägen, welche schweren Geschichten diese mit sich bringen und mit wie viel Liebe sich diese verbinden. In der zweiten Geschichte geht es um die großen Fragen und die starken Wurzeln im Leben. Die letzte Geschichte schafft hoffentlich einen mutmachenden Moment für uns alle. 

Viel Freude beim Lesen!

MEINE GESCHICHTE
Freitag Mittag – Dieter und ich sitzen am Tisch und essen. Morgen geht es in den Urlaub. Die ersten Sommerferien zu zweit, ohne Kinder. In meinem Kopf spult sich meine innere Todo-Liste ab.

Plötzlich – ein Anruf. Herbert, ein Freund, ist am Apparat. Birgit, seine Frau, liegt im Koma, plötzliches Anorisma, Operation, dabei mehrere Schlaganfälle.

Auf einen Schlag ist alles anders!

Sechs Jahre zuvor – wir sind im Endspurt. Wochen der Renovierung liegen hinter uns. Jetzt muss nur noch das Badezimmer geputzt werden.

Plötzlich – ein Anruf. Meine Mutter ist am Apparat. Papa hat einen Schlaganfall in Frankreich.

Auf einen Schlag ist alles anders!

Mai 2020 – der erste Lockdown ist vorbei und Dieter und ich reisen nach Oberstdorf. Im Gepäck habe ich  300 Seiten, geschrieben von Herbert. Es ist ein autobiografische Erzählung und mir wird sehr bewusst, wie die Liebe ihrer Kinder und ihres Mannes, Birgit in ihr Leben zurückgeholt haben.

Und doch – es ist alles anders!

Weihnachten 2020 – die Pandemie hat einen weiteren Höhepunkt erreicht. Wir wagen es nicht, meine Eltern zu besuchen. Katharina hat die Idee, meinen Eltern eine Geschichte zu schreiben, die sie mit ihnen verbindet. Lukas, Dieter und ich schließen uns der Idee an, schreiben unsere eigene Geschichte mit den beiden und brennen eine CD. Am Weihnachtstag fahren wir mit der CD zu meinen Eltern und hören gemeinsam die Geschichten – meine Eltern im Wohnzimmer, wir draußen auf der Terrasse.

Und doch – es ist alles anders!

Heute sitze ich am Tisch, schreibe und weiß, Vieles ist anders und ist auch nicht einfach. Und trotzdem bin ich dankbar – die Geschichten verbinden sich und helfen mir, Verantwortung zu übernehmen und meine eigene Geschichte zu finden.

 

TANZ DES LEBENS
Das Auto ist gigantisch, weiß, leer, laut, robust, stark und doch so klapprig. Wir stehen vor den alten Garagen, der Kopf brummt von der durchtanzen Hochzeitsfeier, es ist kalt, ihr sehr glücklich aus. Ich drücke euch, lache, bedanke mich, steige ein. Du fährst um die Ecke und die Tränen rollen über mein Gesicht. Zuhause? Was bedeutet das eigentlich für mich? Ein so geflügeltes Wort. Weint ihr auch? Ist meine Entscheidung egoistisch? Und was kostet sie für mich und andere? Wie funktioniert Familie über 600km Entfernung? Ortseingangsschild Dortmund – ist das mein Zuhause?

Viele Menschen helfen, um den leeren, weißen Kasten mit Gegenständen zu füllen, die nun an einen anderen Ort fahren. Mein Kopf bleibt aber noch eine Weile und reist Stück für Stück hinterher – aber nie ganz und das ist wunderschön. In diesem Moment spüre ich tiefe Dankbarkeit für die Wurzeln, die mir gegeben wurden, damit ich den Tanz des Lebens tanzen kann.

 

RÜCKHALT

Voller Scham, eingeschüchtert und Angst laufe ich hinter dem hageren Mann in schwarzer Kleidung einmal quer durch die ganze Drogerie in sein Büro hinterher. Ich weiß, dass ich nichts gestohlen habe. Mir gehen trotzdem tausend Gedanken durch den Kopf. Immerhin war ich zuvor in Gedanken einfach aus dem Laden gegangen und hatte aus Versehen nicht bezahlt. Wie kommt der Ladendedektiv jetzt auf die Idee, dass ich etwas gestohlen habe? War mir doch noch ein Labello mit in die Tasche gefallen? In seinem Büro angekommen muss ich meine Tasche leeren und er schaut sich alles an. Ich weiß heute nicht mehr, was in der Tasche war, es war jedenfalls kein gutes Gefühl den Inhalt seiner persönlichen Tasche vor einem fremden Mann auszuleeren. Der Ladendedektiv muss einsehen, dass ich nichts gestohlen habe. Ich darf gehen und laufe direkt zu meiner Mama.

Ich weine, fühle mich ausgeliefert und ungerecht behandelt. Doch dann spüre ich, dass meine Mama mich erst nimmt und mir damit die Angst und die Scham nimmt. Sie reagiert so, wie ich mir seitdem wünsche, dass meine Mama, ich und alle Menschen, insbesondere Frauen reagieren können, wenn sie wissen, dass sie ungerecht und ausgeliefert behandelt wurden. Wir gehen zurück in den Laden und Mama bitte den Ladendedektiv sprechen zu dürfen. Ohne Angst mit ordentlich Nachdruck, macht sie dem Mann deutlich, dass sein Verhalten inakzeptabel war und was dies bei ihrer Tochter ausgelöst hat. Gestärkt von diesem Rückhalt fahren wir nach Hause.

Foto: Sarah Damghani

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